Ankommen

Ich schule mich seit über einem Jahr zurück – auf meine linke Hand. Die Entdeckung, umgeschulte Linkshänderin zu sein, dauerte über 4 Jahrzehnte, manchmal vage Vermutungen – ohne Nachhall, vor 2 Jahren erste nähere Erkundungen. Dann: Mal wieder saß ich in einem Entspannungskurs, um meinen – seit der Kindheit vorhandenen – inneren Erschöpfungsgefühlen, oft verbunden mit innerer Anspannung und Unruhe, etwas Gutes zu tun. Die Kursleiterin sah mich meine Tasse mit links nehmen und sagte, ach, ich sei wohl Linkshänderin. Nun ging ich dem Ganzen wirklich auf den Grund, kaufte mir als Selbsttest eine PC-Linkshändermaus, bestellte D A S Buch “ Der umgeschulte Linkshänder oder der Knoten im Gehirn“ und machte bei Marina Neumann einen Händigkeitstest. Das Ergebnis war eindeutig, und die Frage nach einem „Ob“ der Rückschulung stellte sich für mich nicht, es erschien mir das einzig Natürliche und Selbstverständliche zu sein. Obwohl ich immer eine ausgesprochene Sprachen-, Lese- und Schreibaffinität hatte, war der Schreibvorgang mit der rechten Hand ein innerer Graus und Krampf für mich. Das Gefühl, nie den Buchstaben oder die Zahl so zu treffen, wie ich es innerlich vor mir sah, war schlimm. „Schönschrift“ gelang mir allenfalls zufällig, später war meine Schrift regelrecht „in Verruf“.
Sie löste sich immer mehr auf, zuletzt konnte ich sie selbst kaum noch entziffern. Ich und andere – wir konnten es uns nicht erklären. Selbst wenn mal der Gedanke auftauchte, ich könnte linkshändig sein (auch in meiner Familie gab es Linkshänder), fehlte die Bewusst-
heit und das Wissen, was es überhaupt mit der Händigkeit oder mit einer schon sehr frühen Umschulung im jüngsten Kindesalter durch die Krippe oder Kindergarten auf sich hat.

Wenn ich jetzt schreibe oder sonst etwas im Haushalt, in der Freizeit oder im Sport usw. mit links mache, fühlt es sich richtig und zu mir gehörend an. Das Gefühl, ich könnte stets nur A) und allenfalls noch B) machen, C) kaum noch und D) schon gar nicht mehr, schwindet immer mehr: Die Kraft, die ich als Pseudo-Rechtshänderin im Gehirn und Körper für das Umgeschultsein benötigte, setzt sich immer mehr frei. Die früher häufige Frustration, dass mir Dinge leicht fallen, aber ich erschöpft(er als andere) bin, vergeht. Emotionale oder gedankliche Knoten (innere Endlos-Schleifen) lösen sich auf oder bilden sich erst gar nicht mehr.

Die Rückschulung im Erwachsenenalter ist kein „leichter“ Weg, doch genau sie verschafft mir eine neue und irgendwie alt-bekannte Leichtigkeit. Und die vor allem am Anfang nötige Disziplin, Übung und Konzentration, die Einbindung in den beruflichen und privaten Alltag – dafür lohnt es sich: Ich schnuppere innerlich wieder den Flieder im Garten meiner Großeltern, durch den ich als Kind spazierte – Glücksgefühle, einfach da sein. Eine Tür ist aufgegangen – endlich und unwiderruflich. Ich komme an bei mir und bin gespannt, was die
Rückschulungsreise noch alles an Entdeckungen und Potentialen bereithält.

R. K. im Nov. 2010